GuzziTreff - Nuovo Falcone

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Moto Guzzi Nuovo Falcone

An einem dieser nasskalten Wintertage führte mich unser "Dienstweg" aus dem schrecklichen flachen Bremen in das schrecklich flache Henstedt-Ulzburg. ames und ich wollten die "Guzzis der 70er Jahre erfahren". Wir blieben schon bei der markantesten hängen und folgten der: SPUR DES FALKEN. Nördlich von Hamburg, dort wo bei diesigem Wetter die Erde mit dem Himmel zusammenstößt, leben und arbeiten die Flinker-Kuhlmanns. Ihre Werft, bei der Guzzi-Dampfer auf Kiel gelegt werden, heißt "Bikers Galerie", ist auf einem Bauernhof untergebracht und liegt dicht an Henstedt-Ulzburg. Das Herz der drei schlägt ganz für die Bullerjahne aus Mandello. Für das "Kult"-Gerät Nuovo Falcone und den Bahn-Burner V 7 bieten sie: Import, Wartung, Restaurierung, Customizing, Tuning, Haltbarkeitsver-besserungen .... schlichtweg alles, was normale oder abnorm veranlagte Menschen von den Behördenkrädern aus Norditalien verlangen. Daneben werden natürlich auch andere zwei-und dreirädrige Pflegefälle betreut. Bei unserem Besuch waren auch andere Maschinen zu sehen: Moderne Guzzis, Bianchis, Laverdas, Einzylinder-BMWs und Dnepr. Ein bunter Strauß Motorradbaukunst.

Doch Mittelpunkt dieser Geschichte soll die Guzzi aus den 70ern sein, die sich anfühlt, als wäre sie zur Zeit des großen Börsenkrachs entstanden... die "Nuovo", wie sie von ihren Fans genannt wird. Zu ihrer aktiven Zeit, zu Beginn der 70er Jahre, war sie in Deutschland nahezu unbekannt. Auch ein Test 1975, in “Das Motorrad" von Dr. Paul Simsa, konnte das Mauerblümchendasein der Wuchtbrumme nicht be- enden. Ganz anders im Heimatland Italien: dort bediente sich Polizei, Militär und Feuerwehr des Dampfers. Die Zivilversion war allerdings auch hier kein Verkaufsschlager. Der Trend verhieß Mehrzylindrigkeit. Doch greifen wir nicht zu weit vor, die Geschichte der Nuovo Falcone ist noch älter, als das Motorrad aussieht. Carlo Guzzi hatte, als Flugzeugmechaniker aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt, bereits 1919 konkrete Vorstellungen, wie das Motorrad aussehen sollte, dass er zu bauen gedachte: Stahlrohrrahmen, ein (überquadratischer) Viertakteinzylinder mit 88 mm Bohrung und 82 mm Hub, Primärantrieb über schrägverzahnte Zahnräder, Getriebe und Kurbeltrieb in einem Gehäuse, Ketten- antrieb zum Hinterrad und als markantestes Merkmal eine große Schwungscheibe auf dem linken Kurbelwellenstumpf. Diese Merkmale fanden sich auch 1976 noch in der Nuovo Falcone.

Wenn auch Guzzi gegenüber seinen ursprünglichen Plänen, die Maschine mit einer oben-liegenden Nockenwelle und einem Vierventilkopf auszurüsten, den Motor mit einem zwei-ventiligen Stoßstangen- ventiltrieb baute, so bleibt doch festzustellen, das Carlo Guzzi ein Konzept erdacht hatte, dass durch seine zeitlose Logik immer wieder aktuell war und auch heute noch überzeugt. Der liegende Einzylinder sollte für Jahrzehnte zum Symbol für Guzzi werden. Lediglich die Rennabteilung operierte mit Mehr- zylindern. Die klassische Kubatur blieb der halbe Liter, wenn auch die 250er Airone beachtliche Maschinen waren.

Die Halblitermaschinen gliederten sich in sportliche Varianten und Versionen, die mehr der alltäglichen Nutzung und dem Dienst bei Behörden zugetan waren. Ein Universaltalent war die ab 1950 produzierte Falcone. Ihre Tourenversion löste 1953 die Astore ab.

Die Falcone Tourismo mit ihrem dauerhaften 19 PS Motor, dem tiefen Schwerpunkt und den ausgewogenen Fahreigenschaften wurde zum Behördenmotorrad Nr. 1 in Italien.

Auf dem Zivilmarkt war den traditionellen Guzzis eine starke Konkurrenz erwachsen: kleinere, moderne Motorräder besaßen die gleichen Fahrleistungen bei halbem Hubraum und günstigeren Fix- und Anschaffungskosten. Auf der anderen Seite hatte es Fiat geschafft, durch die Nachkriegsversionen des Topolino, den 500 und den 600, die Italiener zu einem Volk von Autofahrern zu machen. 

Doch einige Individualisten und die Behörden blieben ihrem alten Reitpferd treu, fuhren und liebten es. In den 60er Jahren war man bei Guzzi der Meinung, dass die Tage der Falcone gezählt seien. Für Behörden müsse neben der komplett neukonzipierten V 7 auch wieder ein Motorrad mit dem gleichen Konzept aber modernen Zutaten gebaut werden.

Nachdem die Produktion der Falcone 1967 eingestellt worden war, begann man bei Guzzi ernsthaft an der neuen (Nuovo) Falcone zu arbeiten. 1969 wurden die ersten Maschinen an Behörden ausgeliefert. Die nicht uniformierte Kundschaft musste ein Jahr länger warten.

Alle, die auf einen echten Nachfolger der Falcon: gewartet hatten, waren enttäuscht. Hatte die alte Falcone noch die gestreckten Linien und die Grazilität eines Windhundes gehabt, er- innerte die Nuovo mehr an einen Neufundländer. Die Maschine war zwar modern in Details aber optisch recht plump und auch mit einem Leergewicht von 214 Kg schwer geraten. Der Rahmen war eine solide Doppelrohrkonstruktion mit Bauteilen, die man bereits von der V 7 kannte. So zum Beispiel das ähnliche Vorderrad und die Bremsen. Dazu kamen Anbauteile aus Metall wie Schutzbleche, der 18 l Tank, Seiten- kästen und optional ein Einzelsattel mit Schraubenfedern oder eine Doppelsitzbank. Eigentümlicher- weise hatte man auf der rechten Seite einen markanten Doppelauspuff vorgesehen. Die Behörden- maschine besaß zwei übereinanderliegende "Torpedos", während die zivile Version mit Auspufftöpfen im Stil der frühen Siebziger versehen war. Weiterhin unterschieden sich die Maschinen in Ausstattungs- details, jedoch nicht mehr, wie früher, in der Leistung. So waren Tank, Luftfilter, Scheinwerfer und diverse Details unterschiedlich. Die Behördenmaschine wirkte dabei in sich schlüssiger, bei der Zivilvariante paßte der "bulldoggige” Charakter wenig zum sportlichen Outfit. Dieser Charakter wurde in erster Linie durch den Motor geprägt. Diese Neu-konstruktion, die sich durch Batterie- anstelle von Magnetzündung und Druckumlauf-schmierung anstelle eines Trockensumpfsystems von den alten Falconespezifika unterschied, bestand komplett aus Leichtmetall. ln dem kompakten Gehäuse waren nicht nur der Kurbeltrieb sondern auch wie bei Einzylinder-Guzzis üblich, Primärtrieb und Getriebe unter-gebracht. Von der rechten Seite des Motors führte ein Schacht hoch zum Zylinderkopf. In diesem werkelten zwei Stoßstangen, um die Bewegungen der Nockenwelle auf den Lkw-mäßig dimensionierten Ventiltheb zu übertragen, Auf der rechten Seite befand sich auch die Zündanlage, die von der Nockenwelle aus angetrieben wurde, Der Motor, der von einem 29er Dell Orto Vergaser mit Gemisch versorgt wurde, besaß überhaupt keine sportlichen Ambitionen. Nokkenwellenprofil und Verdichtung schienen eher zu einem Stationärmotor als zu einem Motorradtriebwerk zu passen. In Verbindung mit der 8,7 kg schweren Schwungscheibe der Behördenversion - die der Zivilvariante war gut 6 kg schwer - ergab sich eine phlegmatische Motorcharakteristik, die auf der Plusseite mit gutem Startverhalten, sicherem Leerlauf und geringen Ansprüchen an die Kraftstoffqualitäten und Konzentration des Piloten aufwarten konnte. Da sich ein Drehzahlmesser zu Tode gelangweilt hätte, verzichtete das Werk darauf, die Behörden version mir einem solchen auszustatten.

Einen Reim auf die Charakteristik der norditalienischen Dampframme konnte ich mir schon ge-raume Zeit machen, da in meinem Freundeskreis seit Jahren eine Nuovo Falcone als Alltags- und Reisemaschine ihre Meriten unter Beweis stellt. Ihr Besitzer war so freundlich, uns seine Erfahrungen auf Papier zu bringen.
(Dadurch kann ich mir weitere langatmige Erklärungen sparen, Hähä)

Ein seltener Vogel

Die "Nuovo Falcone" ist keine italienische Primadonna und keine englische Lady. Sie hat den Charakter von Emilio, dem lombardischen Lkw-Fahrer, den wir uns mit einem Unterhemd über seinen gebräunten Bauch gespannt und mit einem Zigarrettenstummel im Mund vorstellen müssen. Robust, Stark und gutmütig, aber alles andere als spritzig.

Der Motor

Allzeit präsent bleibt was sich hinter dem geschmiedeten gleitgelagenen Pleuel dreht: Schwungscheibe und Kurbelwelle wiegen zusammen 19 (!) Kilo. Will man die vier Gänge via Schaltwippe rechts ohne Knall zum Tragen bringen muß man ausgedehnte Schaltpausen einlegen und das Herunterschalten mit Zwischengas üben. Der Kurzhuber stemmt schon knapp über Standgasdrehzahl 4,1 mkp aufs Hinterttd um sich bei 4800 Upm auf 4,4 mkp zu steigern. Eine unlenliegende Nockenwelle steuert über wahre Stoßstangen und mächtige Kipphebel die wie fast alles an diesem Motorrad- kräftig überdimensionierten Ventile: 45 bzw. 47 mm Telellerdurchmesser und 9,5 mm Schäfte. Traditionelle Werte bei LKW und Traktoten, im Motorradbau meines Wissens einsamer Rekord. Drei Liter Öl und großzügige Kühlfläche machen diesen urwüchsigen Motor unverwüstlich. Sollte die Ölduckleuchte aufflammen, ist mit Sicherheit der Geber defekt. Eigentlich eine Konstruktion für die Ewigkeit, wären da nicht diese unglaublichen Ventile. Im Originalzustand zerstören die großen schwingenden Massen im Ventiltrieb häufig die Ventil- führungen, die schaftenden und die Laufflächen der Kipphebel. Sind die Führungen ersteinmal aufgeweitet reißen die Ventilteller auch schon mal ab. Die eingelaufenen Kipphebel machen exaktes Ventil- einstellen unmögllch. Ebenso unmöglich: die Schmierung des Einlaßventils durch den aufsteigenden Ölnebel. Auch die Filterung des Öls mittels eines doppelten Kunstsffsiebs erscheint optimistisch: abgefallene Ventilteller jedenfalls können nicht in die riesigen Hauptlager gelangen. Außerdem macht die Drossel-Nockenwelle den Motor so müde, wie Emilio am Montagmorgen ist.

Das Fahrwerk

Die seinerzeit vielegelobte Guzzi-Tele sorgt im Verein mit der Hinterradschwinge und dem Schwingsattel für ungeahnten Komfort. Der Doppelschleifenrahmen trägt einen schweren Beiwagen auch mit einer Schleife, ohne sich zu verwinden, die doppelreihigen Radlager sehen dem Gespannbetrieb gelassen entgegen. Die exzellente Duplexbremse vorn kann die dahineilenden fünf Zentner auch das Stilfser Joch hinab jederzeit stoppen. Die ebenso große hintere Simplextrommel ist ebenfalls ohne Fehl und Tadel. Ein Lehrbuchfahrwerk, dimensioniert wie der Eiffelturm und ebenso schwer. 200 Kilo ruhen mindestens auf den 5.50-18er Reifen. Die Räder wären sogar tauschbar - wären nicht die Mitnehmer an der vorderen Nabe eingespart worden. Beim Hinterradausbau bleiben Kettenspanner und Kettenrad an der Schwinge und die Bremsankerplatte am Gestänge: nur zwei Muttern müssen gelöst werden. Der massive Gusseisenständer ist fast dreißig Zentimeter breit und das als "roll-on-center-stand" ausgeführt, so können auch Leichtgewichte den Saurier aufbocken, der dann auf losen Untergrund sicher steht. Auf Asphalt tun sich auch zwei Mann schwer, die Guzzi zu kippen. Der Seitenständer, dessen einsame Feder der TÜV gern bemängelt, erinnert fatal an einmen Elefantenfuß.

Der Fahreindruck

Nach dieser Inspektion ruht des Testers Blick ehrfürchtig auf den großen Kickstarter: englische Erfahrungen machen vorsichtig. Doch die furcht ist unbegründet: Wenn sich der Kanaldeckel, der hier als Schwungscheibe fungiert, erst einmal - übrigens gegen die Drehrichtung - dreht, dann dreht er sich. Die Falcone schlägt nicht zurück. Wer jedoch den zweiten Kupplungshebel nicht als Ventilausheber erkennt und bemüht, kann auf dem Kickstarter frühstücken: Was für eine Kompression ! Schon das Starten ist eindrucksvoll, die Engländer sagen: "She first up", und das trifft es. Es erklingt ein machanisches Orchester: der Vergaser schnieft, als ob Emilio die Nasenfeuchte hochzieht, die Ventiel klappern in ihren Sitz zurück, und der koffergroße Doppelauspuff feuert, daß einem die Bauchdecke bebt. Bei 300 Upm Standgas läßt sich das alles genau verfolgen. Der  TÜV hat diesem Ungetüm 102 Phon attestiert. Doch der Protest seitens der Nachbarschaft bleibt aus - jeder liebt das Gebrummel, besonders die älteren Semester bekommen leuchtende Augen.
Im Stadtverkehr verblüfft die schwere Konstruktion: dank des niedrigen Schwerpunks und des breiten Lenkers ist das Gewicht vergessen. Nur das Schalten nervt, besonders so lange das 30er Öl noch zäh ist. Gut das man mit dem zweiten und dritten Gang völlig ausreichend bedient ist. Der erste ist wohl mehr dazu gedacht, Marschkolonnen zu begleiten. Im vierten dagegen kann man jeden Leitpfosten mit der jeweils übernächsten Zündung begrüßen. Überhaupt: Am Ortsschild wird bei 55 km/h der vierte Gang (fast ist man versucht, "der große Gang" zu sagen) eingelegt, und dann genießt man nur noch. Das italienische Urvieh stampft los, daß Heinrich Lanz seine helle Freude hätte. Überholvorgänge erledigt Emilio mit enormen Bizeps im Vierten, scheuchen läßt er sich nicht.
Wer an einer Steigung den Gashahn zu weit aufdreht, den bestraft er mit Bummelstreik, denn das Gemisch magert ab. Fängt der Vergaser an zu fauchen, ist das Limit erreicht - mehr bringt nichts. Wenn Emilio muß, dann schafft er im Dritten über neunzig und bollert im Vierten an ratlosen SRs vorbei (Zivilübersetzung! 16:32), doch man merkt schnell, daß hier kein Leichtathlet, sondern ein Schwerarbeiter werkelt, der lieber bei 2000 Upm schiebt als bei 4500 Ump schuftet. Gelassenes Landstraßenreisen mit 90 - 110 km/h sind sein Element.
Emilio ist ein gutmütiger Burche: Fahrwerksunruhen sind ihm wie alle Unruhe fremd. Selbst misserabelste Straßenbeläge bemerkt der Fahrer nur am verschwinden der begleitenden Freunde im Rückspiegel. Überraschende Schräglagen sind möglich, recht quittiert durch ein Schaben der Auspuffkiste am Asphalt, links schrappte der Seitenständer. Beides absolut kein Grund zur Unruhe , nicht im Fahrwerk, nicht beim Fahrer. Emilio läuft wie auf den sprichwörtlichen Schienen und aus dem Handgelenk heraus um jede Kurve. Von einem schweren Sozius und einem Haufen Gepäck läßt sich Emilio überhaupt nicht beeindrucken.
Wer mit diesem Motorrad auf den Pinsel fällt, soll Bahn fahren. Die Sitzposition ist urgemütlich, der Schwingsattel und der 18 Liter-Tank machen den ersten Stopp erst nach 350 km nötig. Verbrauch 4,5-4,8 Liter. Es ginge noch weiter, aber da ist Vorsicht geboten. Die linke - oder rechte, wahlweise Tankhälfte dient theoretisch als Reserve, praktisch ist nur ein Schlückchen drin, daß garantiert nicht bis zur nächsten Tankstelle langt. Außerdem meutert der Sozius sowieso nach länstens 150 Kilometern, denn das original Sitzbrötchen reicht eigentlich nur, um einen Gefangenen zur nächsten Wache zu transportieren. Ein nachträglich montierter Denfeld-Schwingsattel garantiert eine lange und glückliche Beziehung.

Die Nuovo-Falcone ist ein Motorrad für Pfeifenraucher und solche, die es werden wollen (wie schon ein gewisser Dr. Simsa der Siebziger feststellte). Dieses Motorrad überträgt eine unglaubliche Gelassenheit auf den fahrer. In Italien umrankt die Nuovo der Mythos der völligen Unzerstörbarkeit. Zu Recht, wenn der Kopf auf moderne Innereien umgerüstet ist. Wer in seinen Kindertagen mit Lego gespielt hat, kann die Falcone auch warten. An Spezialwerkzeug benötigt man ein Flacheisen, um die Kupplung zu entlasten, und eine Vier-Zapfen-Schlüssel für Schwungrad und Ritzel - das war´s. In den beiden großen abschließbaren Fächern läßst sich alles Werkzeug unterbringen, das man brauchen könnte - es sei denn, man möchte unterwegs den Motor teilen. Die Bosch-Bordelektrik ist simpel und absolut zuverlässig. Die serienmäßige 33 Ah-Batterie reicht, um  anderen stundenlang beim Schlossern zu leuchten. Sie stammt, wie die dicke Gleichstrumlichtmaschine und der Regler, aus dem VW-Käfer. Ersatzteile gibt es inzwischen auch in Deutschland bei den entsprechenden Italo-Oldie-Händlern und in Italien. Wer die beschriebenen Schwächen ausmerzt, erwirbt einen anspruchslosen, ruhigen Kameraden für eine lange Zeit.

Aber genau das war es eben. Alte Kameraden wanderten in den krampfhaft modernen 70er Jahren kolonnenweise auf den Müllhaufen der Geschichte. In der Halbliterklasse zeigten Motorräder wie die Dreizylinder-Kawas und die Vierzylinder-Honda der Konkurrenz, wie sich die Motorradkäufer eine 500er vorzustellen hatten. Zu einer zivilen Falcone griffen nur wenige, da die "Genießer auf zwei Rädern"-Welle noch nicht von den Marketingspezialisten erfunden worden war.

Kunde Nr. 1 blieb, genau wie beim Vorgängermodell, der italienische Staat. Dadurch wurde ein großer Bestand über die Zeitläufe gerettet und taucht nun, da Einzylinderpiloten nicht mehr als Sozialfall gelten, auf dem Gebrauchtmotorradmarkt unserer Heimat auf. Händler wie Jürgen Flinker holen die ausgedienten Kräder LKW-weise von italienischen Versteigerungen. Oft werden die Maschinen nur in Losen gemeinsam abgegeben. Bevor der stolze neue Besitzer wieder mit so einem Apparat loshämmern kann, müssen die von langen Dienstjahren und Depotstandzeiten gezeichneten Maschinen komplett zerlegt und wiederaufgebaut werden. Es gilt, die Spuren von Verschleiß, Pfusch und Alterung zu beseitigen. Doch das reine Wiederherstellen des seinerzeitigen Auslieferungszustandes ist nicht unbedingt das Ding von Jürgen Flinker. Jede Maschine, die Bikers Galerie verläßt, ist anders . Technische Optimierung und veränderte Oberflächengestaltung ergänzen die Basis, um ein individuelles Motorrad zu schaffen. Die Maschine, die ich zum Fahren unter die Hose geschoben bekam, hatte ihr Dasein die ersten zwanzig Jahre als Behördenfahrzeug südlich der Alpen gefristet. Den zweiten Frühling soll sie jetzt als Genuß- und Reisemotorrad in Deutschland erleben.

Die Nuovo verbreitete mit ihrer eleganten, hochwertigen Lackierung in einem gedeckten Khakigrün zusammen mit vielen verchromten und polierten Teilen eine Aura dezenter Eleganz inmitten des nordeutschen Winterdunstes. Eine italienisch-rote Guzzi hätte die graue Stille des flachen Landes zerstört... Unter dem Eindruck klammer Kälte näherte ich mich dem Single mit dem gebotenen Respekt. Kannte ich doch bis jetzt nur Nuovos, die das abgewetzte Kleid harter Alltagsarbeit trugen.

Mein Blick blieb an den vielen Details hängen, die bei dieser Maschine gut zur Geltung kamen. Bei den Rädern angefangen: Die grünen Felgen kontrastierten mit den verchromten Speichen und den polierten Bremsen. Ebenso interessant war die Lampenpartie, bei der der dunkelgrüne Scheinwerfertopf einen interessanten Kontrast zu den grünen Blechhülsen der Telegabel und dem polierten Tachoträger bildete. Der Motor mit den polierten Gehäusedeckeln wirkte souverän inmitten dem hellgrünen Geflecht der überwiegend geraden Rahmenrohre. Am Heck setzten Rücklichthalter, Auspufftopf und der Gepäckträger verchromte Glanzlichter. Krönung des Ganzen war der mächtige Tank, dessen Flanken der Adler zierte. Wenig ästhetisch fand ich allerdings den originalen Luftfilter, der durch seinen verchromten Deckel an eine Brotdose für Gutverdienende gemahnte.

Die Maschine war ein ausgesprochen schönes Stück, fast zu schade für die regennassen Straßen. Doch sie sollte ja ihre Talente unter Beweis stellen. Technisch hatte Günter Flinker bereits einiges optimiert: Der große Brennraum des Kurzhubers wurde von einer Doppelzündung befeuert, der Ventiltrieb war erleichert und auf den Betrieb mit unverbleitem Benzin vorbereitet worden. Die Sekundärübersetzung besaß zwei Zähne auf dern hinteren Kettenblatt weniger als die originale Behördenübersetzung, und die serienmäßigen Gabelfedern hatten strafferen Exemplaren weichen müssen. Ansonsten präsentierte sich die Maschine im neuwertigen Originalzustand. Die Startprozedur mußte bei diesem Apparat manuell erledigt werden. Die Nuovo gab es immer mit Kickstarter, zivile Exemplare besaßen aber anstelle der normalen Bosch-Gleichstromlima eine Bosch-Lima mit Dynastarteinrichtung. Umrüsten von der einen auf die andere Version ist nicht das größte Problem.

Günter erklärte mir die Bedienung der Maschine: Schaltung rechts mit Wippe. Schalten mit Zwischengas und Gedenksekunde. Blinkerschalter am rechten Lenkerende, Lichtschalter am rechten, Benzinhahn links zum Fahren, rechts für Reserve. Bremsen schlapp für heutige Verhältnisse. So weit, so gut! Kicken'? Mal probieren: Ventilausheber unter dem Kupplungshebel, Choke am rechten Lenkerende. Einen Zünd- verstellhebel brauchte ich nicht zu suchen, da die Nuovo Fliehkraftverstellung besitzt. Durch Erfahrungen mit ruppigen Zweitaktern und englischen Langhubern ging ich die Sache vorsichtig an. Doch es war genauso wie es Christian beschreibt. Nachdem ich mit gezogenem Ventilausheber die Kompression überwunden und den Kolben kurz hinter dem OT plaziert hatte, reichte ein herzhafter Tritt, um die reichlichen Schwungmassen in Bewegung zu bringen. Der zweite Tritt - bei feuchtern Wetter um 2 Grad - genügte, um dem Motor kräftige Lebenszeichen zu entlocken. Nach wenigen Sekunden stellte sich auch ohne Chokeunterstützung ein runder Leerlauf ein. Die einzelnen Klangkomponenten waren deutlich voneinander zu unter scheiden: Ventiltickern, Auspuffgeballer und dezentes Ansaugschlürfen. Überhaupt kein Problem war es, die einzelnen Zündungen voneinander zu unterscheiden. Drehte ich vorsichtig am Griff, war deutlich zu merken, daß der Kolben sich bemühen mußte, die Schwungmassen auf Trab zu bringen. Kein blitzschnell giftiges Hochdrehen wie bei modernen Hochleistungsflitzern, eher dampfmaschinenartiges Gepolter.

Mittlerweile hatte Günter Flinker sein Falcone-Reisegespann vorgekramt, An der Behördenfalcone hing ein Uralseitenwagen, in dem ames Platz nahm, um eine mobile Fotoplattform zu haben. Günther wies mir mit seinem Gespann den Weg durch die neblige Suppe, so daß ich später - on the road - stets den "guten Ton" in den Ohren hatte. Nachdem ich die solide Seitenstütze hochgeklappt hatte, schwang ich mein rechtes Bein über die Maschine und plazierte mich. Donnerwetter! Die Lenkergriffe wuchsen fast von alleine in die lnnenflächen der Handschuhe, der Hintern ruhte angenehm auf dem sattelartigen Sitz. Auch der Fuß, der sogleich beauftragt wurde, den ersten Gang einzulegen, fand sich in entspannter Haltung wieder. Die bequeme Sitzposition - sozusagen wie ein Hausherr -scheint den Bedingungen von mehrstündigen Streifenfahrten und Fahren unter harten, militärischen Bedingungen gereeht zu werden. Als Zivilist profitiert man sowohl beim langsamen Fahren innerorts als auch auf langen Reisen davon. Eine ähnliche Haltung, wenn auch mit weniger Polster unter dem Südpol, findet sich am ehesten noch an englischen Viertaktern der 50er Jahre. Ich wüßte keine BMW, deren Sitzpostion in niedrigen Geschwin-digkeitsbereichen so entspannt ist. Die zahrne Charakteristik macht sich bereits beim Anfahren positiv bemerkbar: Der Motor zieht, ohne sich zu verschlucken und ohne daß Kupplungszauberei notwendig wäre, die ganze Fuhre bollernd vom Fleck. Sofort konnte ich über die Wippe den zweiten Gang wählen. Selbst mit der längeren Übersetzung reicht der Zweite allemal für alle Tempi über Schrittgeschwindig-keit. Der Dritte entpuppte sich als Universalfahrgang für kleinste Nebensträßchen und lnnerortsverkehr, während der vierte von 60 kmfh an alles erledigte. Ausdrehen bringt nichts außer Krach und Verschleiß. Lieber den “Locomotive Breath” nutzen, der seinerzeit schon der Guardia Civil das Leben erleichterte... Doch vor der freien Landstraße mußte ich den Ort durchqueren. Dort bescherte mir die dicke Tante aus Mandello bereits das erste Aha-Erlebnis: Das Gewicht von mehr als vier Zentnern schien wie weg-gezaubert, sobald die Räder rollten. Alle größeren Massen, abgesehen vom gefüllten Tank, liegen nicht höher als 60 cm. Dieser tiefe Schwerpunkt in Verbindung mit dem langen Radstand von 1,45 m ist auch das Geheimnis, aus dem die ansonsten konventionelle Guzzi ihre souveräne Straßenlage bezieht. Im Ort um Ecken herumzuzirkeln, war selbst auf winterlich-nasser Fahrbahn ein Vergnügen. Erfahrungs-gemäß tat ich mich mit anderen Maschinen dieser Gewichtsklasse auf nassem Untergrund nicht so leicht.

Das angenehm sichere Fahrgefühl blieb auch außerhalb der Ortschaft erhalten. ln Schleswig-Holstein sind die Gelegenheiten, eine 25 PS starke Maschine an die Grenzen des Fahrwerks zu bringen, zugege-ben gering. Nebenwege mit Schlaglöchern und Flickstellen ließen sich nach ausgiebiger Befragung Einheimischer finden. Auch auf Fahrbahnunebenheiten rührte sich nichts im stabilen Falcone-Fahrwerk. Für meinen Geschmack hätten Federung und Dämpfung durchaus noch eine Spur weicher sein können. Die Ursache für diese Straffheit, die ein sehr gutes Gefühl für die Straßenoberfläche vermittelte, sch-einen neben den härteren Gabelfedem auch die tiefen Temperaturen am Fahrtag gewesen zu sein. Bei 2 bis 3 Grad wird jedes Gabelöl zäh. Vermutlich stimmt es bei sommerlichen Temperaturen. Überland war es dann ausgeprochen nett, dem vorausfahrenden Falcone-Gespann zu folgen. Auf verkehrsarmen Straßen pendelten wir uns zwischen 80 und 90 km/h ein, Die Anmutung, die die Maschinen erzeugten, erinnerte an Motorradtouren in der Vorkriegszeit: Die Vorbeiziehende, nicht vorbeisauende, Landschaft und die eindeutigen Lebensäußerungen des stampfenden Triebwerks erzeugen die Empfindung für die Wirklichkeit des Fahrens. Die große Schwungmasse und die schwache Verdichtung verhinderten bis zu einer Geschwindigkeit von 90 kmfh das Aufkommen lästiger Vibrationen und ließen die Falcone weich und kommod wirken. Meine Haltung entspannte sich, und ich konnte mir vorstellen, daß man so auch getrost auf weite Reisen gehen kann. In den wenigen Kurven ließ sich die Falcone behende schwenken, so daß dieser Trum von einem Motorrad seinem Fahrer auch in alpinen Regionen nicht viel an Fahr-können abverlangt. Auch die großen Trommelbremsen trugen zum sicheren Fahrgefühl bei. Diese Stopper sind schon fast überdimensioniert. Konzentration verlangte lediglich der Schaltvorgang. Beim Übersetzungswechsel müssen an japanische Maschinen gewohnte Motorsportler gänzlich umdenken. Die großen Schwungmassen und die langen Schaltwege erfordern eine kurze Pause beim Hochschalten und einen fein dosierten Zwischengasstoß beim Herunterschalten. Die Gänge rasteten stets sicher, und die Schaltwippe, anfangs ungewohnt, wünsche ich mir jetzt auch für meine Motorräder. Kein Gehakel mit dicken Winterstiefeln, kein Wasser, das man sich durchs Oberleder drückt. Feine Sache! In flacher Topo-graphie erledigt die stampfende Tante eh alles im größten Gang... lch gewöhnte mich an die "lässige Tour"! Entspannt und befriedigt kehrten wir von unserem Ausflug zurück.

Bei einem Kaffe konnte ich resümieren: War ich bis dahin der Meinung, daß die Falcone zur Kategorie Motorräder gehört, die in erster Linie pfeifenrauchende Rentenbezieher glücklich macht, so konnte ich mir nach diesem Sonntagsausflug gut vorstellen, mit diesem Apparat notfalls bis ins wilde Kurdistan zu reisen oder Norwegen vom Sattel aus zu sehen. Mit dem verwindungssteifen, robusten Fahrwerk, den ausgezeichneten Bremsen und der ans wunderbare grenzenden Schwerpunktlage sieht die Nuovo im Zeitalter der hochspezialisierten Bikes, die immer nur eine Disziplin beherrschen, keinesfalls schlecht aus. Hat man doch ein Motorrad fürs Herz, das notfalls alles mitmacht ...

Ein sehr schöner Fahrbericht mit technischer Beschreibung wie er März 1993 in dem Magazin KUMMIKUH und PAST perfect veröffentlicht wurde. Einfach schön zu lesen und auch der Humor kommt auch nicht zu kurz. Die Wiedergabe des Berichtes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rainer Baues, dem Herausgeber von GUMMIKUH und PAST perfect.

Neues bei den Angeboten
Norbert plant noch Bausätze für den aussenliegenden Ölfilter der NF zu machen. Verwendet wird die Ölfilterpatrone von Honda mit ca. 70mm Aussendurchmesser. Vorhanden sind Leitungs-Formstücke für die Bosch-Dieselfilterplatte, die sich prima für den aussenliegenden Ölfilter eignen. Siehe auch die Beschreibung hier bei GuzziTreff unter Modifikation > Hauptstromfilter >fu tech.
Hier geht es zum Angebot.

 

Neues in Modifikationen
Es ist manchmal schwierig wenn man alleine schraubt. Oft fehlt einem die dritte Hand. Auch beim spannen des Keilriemens für die LIMA oder dem Dynastarter ist das so. Das macht doch keinen Spaß.
Deshalb hat sich Norbert etwas einfallen lassen.

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